top of page
Suche
  • AutorenbildJulia Gauly

Der Bewegungsdrang - eins der schlimmsten Symptome

Eines der größten Themen während der Krankheit und auch zu Beginn der Therapie war mein Bewegungsdrang. Was bedeutet ein Bewegungsdrang im Zusammenhang mit einer Essstörung? Es ist ein weiteres Symptom, eine Unterform einer Essstörung, da es sich hierbei um eine zusätzliche gewichtsreduzierende Maßnahme handelt. Es war mir teilweise fast unmöglich still sitzen zu bleiben und mich auszuruhen. Außerdem kontrollierte ich rund um die Uhr wie viele Schritte ich machte und wie viel Kalorien ich verbrannte mithilfe meines Fitness Trackers.


Kurz hingesetzt kam das schlechte Gewissen: "Du verbrennst gerade keine Kalorien." - "Wie faul du wieder bist."- "Rumsitzen lässt dich fett werden." Ich stand also wieder auf und machte irgendetwas. Egal was es war, Hauptsache ich hatte mich bewegt. Zuletzt artet mein Bewegungsdrang im Putzen aus. Ich räumte ständig auf und saugte mindestens zwei mal täglich. Dabei viel mein Blick immer wieder auf mein Fitbeat-Armband. Es mussten 20.000 Schritte sein. Darunter fühlte ich mich schlecht. Es fühlte sich immer so an, als ob ich, wenn ich drunter lag kein Recht dazu hätte etwas zu essen. Die Bewegung war also meine Rechtfertigung dafür überhaupt etwas zu mir nehmen zu dürfen. Psychisch übte das so einen gewaltigen Druck auf mich aus und bestimmte meine vollständige Alltagssituation. Alles musste danach gerichtet und geplant werden. Ich verabredete mich weniger mit Freunden zum Kaffee oder zum Film schauen, da ich da wertvolle Stunden vergeudetet, in denen ich mich hätte bewegen können. Somit hatte der Bewegungsdrang letztendlich sogar Auswirkungen auf mein soziales Umfeld.


Als ich dann nach Bayern in die Klinik ging, wusste ich, dass der Bewegungsdrang neben der Essstörung als solches auch ein Thema sein würde, an dem ich arbeiten werden müsse. Zu Beginn der Therapie war der erste Schritt, dass ich meinen Tracker ablegte. Es dauerte eine ganze Weile bis ich mich damit arrangierte. Aber tatsächlich merkte ich schon nach wenigen Tagen, wie eine Last von mir abfiel. Es war schon ein schlechtes Gefühl mich nicht mehr kontrollieren zu können. Aber das positive Gefühl, dass mich von der Pflicht der Kontrolle entlastete war so viel stärker, als die schlechten Gedanken.

Am Anfang durfte ich mich in der Klinik natürlich auch kaum bewegen. Ich durfte die ersten Wochen nur drei mal am Tag für fünf Minuten raus an die frische Luft, auf den "Hof" der Klinik. Treppen durfte ich auch nicht steigen, sondern musste immer den Aufzug nehmen. Außerdem war es ein Teil der Therapie, dass wir uns nach den Mahlzeiten immer zwei Stunden in einen überwachten Gruppenraum gesetzt haben. Dort durften keine Handys und Laptops benutzt werden. Man konnte lesen, Karten spielen oder einige strickten auch. Da blieb kaum Zeit beziehungsweise die Möglichkeiten sich zu bewegen.


Die ersten Wochen lag ich nachts in meinem Bett und überlegte ernsthaft einfach im Zimmer hin und herzulaufen. Ich zwang mich aber jedesmal es nicht zu tun, da ich wusste, dass ich dann egal wie gut ich das mit dem Essen irgendwann hinbekomme, mir doch immer ein Hintertürchen offen lassen würde. Ich würde meinen Bewegungsdrang behalten, was ich auf keinen Fall wollte.


Was hat mir sonst geholfen ihn los zu lassen? Als ich dann ein wenig an Gewicht zurückgewonnen hatte, bekam ich wieder mehr Freiheiten. Ich durfte eine Stunde am Tag nach draußen. Natürlich wurde diese Stunde direkt dafür genutzt mich so viel wie möglich zu bewegen. Also eine möglichst große Runde zu spazieren. Die Symptomatik verstärkte sich zunächst also wieder. Anfang März gab es dann einen erneuten Wintereinbruch. Draußen waren Minusgerade. Das hieß für alle Mädels auf der Station: Winterregelung. Wir durften also ein paar Tage gar nicht mehr raus. Zunächst war es wieder schlimmer. Drinnen rumsitzen, obwohl man sich eigentlich schon wieder mehr Freiheiten erarbeitet hatte. Aber nach drei Tagen wurde es leichter. Ich musste mich zu dieser Zeit auch täglich wiegen in der Klinik. Ich merkte, dass das "nicht raus gehen", sich auf der Waage gar nicht wirklich widerspiegelte. Der Verlauf war genauso wie zuvor auch. Diese Erkenntnis war ganz wichtig für meinen Prozess. Im Laufe der Therapie legte ich mir zur Übung immer wieder ein bis zwei mal die Woche "Bewegungfreie Tage" ein. Es war wirklich hilfreich, zu "üben" sich wenig oder gar nicht zu bewegen. Nur so konnte es zur Routine werden. Außerdem habe ich versucht mir "Hobbys" zu suchen, bei denen man sich ausruht oder nicht bewegt. Ich schaute mehr Serien und las wieder mehr Bücher. Im Sommer legte ich mich auch oft einfach in die Sonne. Von Tag zu Tag wurde es leichter.


Heute verspüre ich keinen wirklichen Bewegungsdrang mehr. Ich mache immer noch gerne und auch oft Sport, aber nicht mehr, um essen zu dürfen.

Es ist zwar jetzt noch ein Thema, was mich beschäftigt, aber in sehr abgeschwächter Form. Der Gedanke Sport machen zu müssen, ist immer noch da, deswegen lege ich mir auch heute noch immer wieder bewusst "bewegungsfreie" oder "Ruhe-Tage" ein. Mit diesem System funktioniert es ganz gut, dennoch werde ich weiter daran arbeiten noch mehr auf meinen Körper zu hören, wann mir Sport gut tun würde und wann eher ein MUSS-Gedanke dahinter steckt.


Ich hatte fast drei Jahre lang jeden Tag diesen Tracker an. Vor einem Jahr habe ich es abgelegt und nie wieder angezogen.


1.351 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
Beitrag: Blog2_Post
bottom of page